Pressetext | erschienen am 17.05.2019
Von Lilly Nielitz-Hart
Bei einem Seminar über verhaltensauffällige Kinder mit Sozialpädagogin Marion Milbradt berichten Erzieherinnen von ihren Erfahrungen im Arbeitsalltag.
Was benötigt ein Kind für eine gesunde Entwicklung? Im Rahmen der Fortbildung für Erzieher bot die Stadt Flörsheim ein Seminar mit Diplom-Sozialpädagogin Marion Milbradt an, das sich mit der Thematik um verhaltensauffällige Kinder und dem sinnvollen Setzen von Grenzen beschäftigte. Erzieher aus Kitas in Flörsheim, Wicker, Weilbach und Rüsselsheim berichteten von ihrem Arbeitsalltag, in dem sie zunehmend mit verhaltensauffälligen Kindern zu tun haben. Viele Kinder könnten sich nur noch schwer konzentrieren und verhielten sich aggressiv gegenüber Gleichaltrigen oder auch Autoritätspersonen, erzählten die Seminarteilnehmer. Andere seien extrem schüchtern und zögen sich in sich selbst zurück oder entwickelten Essprobleme. Oft werde deutlich, dass die Kinder auch bei ihren eigenen Eltern keine Grenzen mehr kennen: Eltern würden beleidigt, getreten oder angespuckt. Wenn die Erzieher das Gespräch mit den Eltern suchten, seien diese oft unsicher, wie sie mit dem Verhalten des Kindes umgehen sollen. Beim Bringen und Abholen der Kinder von der Kita werde deutlich, dass die Kinder die Entscheidungsgewalt haben. „Man könnte fast sagen, die Kinder erziehen mittlerweile die Eltern“, sagte eine Erzieherin.
Milbradt erklärte, dass ein Kind, das bei Eltern oder Erzieherinnen die Grenzen überschreitet, eine größere Bereitschaft habe, dies auch bei Gleichaltrigen oder Jüngeren zu tun. Dennoch seien verhaltensauffällige Kinder nicht krank. Die Grundbedürfnisse eines Kindes nach „Liebe, Halt und Orientierung“ seien heute dieselben wie früher. „Allerdings müssen Kinder heute unheimlich weit gehen, bevor sie an eine Grenze stoßen“, erklärte Milbradt. Ein „entgrenztes Kind“ macht zwar, was es will, gleichzeitig seien die an den Tag tretenden Verhaltensstörungen ein Ausdruck dafür, dass es verunsichert ist und Angst hat. Oft würden Kinder durch „falsch verstandenes Partizipieren“ überfordert.
So berichtete ein Erzieher von einem Kind, das sich trotz Minustemperaturen weigerte, eine Mütze anzuziehen, weil die Mutter es vor die Wahl stellte. Die Konsequenz daraus war, dass das Kind am nächsten Tag krank war. „Kinder wissen ja nicht immer, was das Beste für sie ist“, bestätigte eine Kollegin. Das Grundbedürfnis nach Sicherheit und Orientierung werde nicht erfüllt, wenn Kinder vor Entscheidungen gestellt werden, die sie noch gar nicht treffen könnten, erläuterte Milbradt.
Umgekehrt werde ein Kind, dem Grenzen gesetzt werden, ruhiger und fröhlicher, da es sich sicherer fühle. Wenn Eltern oder Autoritätspersonen Entscheidungen und die Verantwortung übernähmen, entlasteten sie das Kind. „Ein Kind, das nach Grenzen schreit, kann sich nicht ausruhen oder in sich selbst ruhen“, sagte Milbradt. Seine Angst äußere sich in auffälligem Verhalten, dies führe dann zu Konzentrationsstörungen und Lernschwächen. Kinder spürten oft, was das Problem ist, könnten es aber nicht artikulieren oder lösen, gab die Sozialpädagogin zu bedenken. Die Erzieherinnen berichteten von Schwierigkeiten, wenn Eltern nicht kooperieren. Milbradt sah dies auch als gesellschaftliches Problem, denn es herrsche eine große Unsicherheit über Kindererziehung bei vielen widersprüchlichen Theorien. Das Setzen von Grenzen sei aber wichtig für den Umgang miteinander. Für eine gesunde Entwicklung müssten Kinder auch an ihren Krisen wachsen können: „Unter der Käseglocke wird kein Kind stark.“